[Buchgedanken] Aiki Mira: „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“

Vor kurzem habe ich „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ von Aiki Mira gelesen. Das Buch ist 2023 im Polarise Verlag, einem Imprint der dpunkt.verlag GmbH veröffentlicht worden und dem Genre Science-Fiction zuzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Hamburg im Jahr 2112: Die Stadt wird immer wieder von Starkregen geflutet, im Binnendelta hat sich ein Slum aus schwimmenden Containern gebildet und über allem thront das gigantische Stadion. Zum „Turnier der Legenden“ reisen Fans aus der ganzen Welt an, um die berühmten Glam-Gamer spielen zu sehen. Auch Go [Stuntboi] Kazumi begeistert sich für das VR-Gaming, fährt jedoch noch lieber Stunts auf dem Retro-Skateboard. Ein Sturz scheint das Aus für Gos Karriere zu bedeuten, doch dann wird Go ein Job im Stadion angeboten – bei den Rahmani-Geschwistern, den berühmtesten Gamern Deutschlands! Von da an überschlagen sich die Ereignisse und Gos Welt wird komplett auf den Kopf gestellt: ein Bombenanschlag, illegale Flasharenen, Tech-Aktivisten, Cyberdrogen, künstliche Intelligenzen – und dann ist da auch noch dieses Mädchen …

„Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ lässt sich bereits schwer einem Genre zuordnen. Vom Verlag beworben als Near-Future-Science-Fiction, als Entwicklungsroman, als LGBTQIA+-Roman, habe ich es der Einfachheit halber bei der Einordnung als Science-Fiction belassen – denn für „Near-Future“ sind mir die 90 Jahre doch etwas viel. Gute Argumente hätten sich aber auch für die Einstufung als progressive Phantastik gefunden – oder sogar für die Kategorisierung als (Polit-) Thriller oder Dystopie.

Die Handlung ist spannend und abwechslungsreich, teils aber auch etwas verworren und sehr komplex, fügen sich doch genug Handlungsstränge und Schauplätze für – mindestens – zwei Bücher mal mehr, mal weniger gut zusammen. So bleiben gerade die politischen Themen etwas flach, die verschiedenen Aktivisten- und Terrorgruppen blass, während der Handlungsstrang um Go, ELLL und die Rahmanis gut aufgearbeitet wird. Gerade der Einstieg fällt jedoch unglaublich schwer – selbst für gameaffine Leser ist der Wechsel zwischen Realität und VR, zwischen Gesprächen, Chats und übermittelten Gedanken anfangs viel und nicht immer leicht fassbar.

Das Setting begeistert hingegen auf ganzer Linie. Aiki Mira entführt den Leser in ein Hamburg der Zukunft, in eine Welt, die von global agierenden Unternehmen geprägt und dominiert wird. Und auch wenn man anfangs etwas braucht, sich zurechtzufinden, ist die Welt doch nach und nach immer faszinierender, spannender und – ja – auch dystopischer. Lediglich die Ingame-Umgebung und die Szenen im Neurosubstrat lassen sich bildlich für die Leser nur schwer fassen.

Die einzelnen Charaktere sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei überzeugen vor allem Ren Kazumi, beide Rahmanis und ELLL, während Ben und Tayo sehr blass bleiben. Bei Go bin ich zwiegespalten. So sind die Zweifel, ihre Suche nach der geschlechtlichen Identität gut dargestellt, darüber hinaus handelt sie aber nicht zwingend nachvollziehbar. Aiki Miras Schreibstil ist im Wesentlichen gut und flüssig lesbar, sehr authentisch und technikaffin.

Die Buchgestaltung ist gelungen, Lektorat und Korrektorat haben sauber gearbeitet, der Buchsatz ist solide, aber relativ schlicht – hier hätte man den Gamecharakter oder die technologischen Features noch etwas besser darstellen können. Das Covermotiv zieht sich über den kompletten Buchumschlag, ist farblich ein Traum und verbirgt das ein oder andere typografische Easter Egg. Allerdings hätte hier durchaus noch mit Klappen oder farbigen Coverinnenseiten das Design etwas aufgepeppt werden können.

Mein Fazit? „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ ist ein sehr ambitionierter, aber auch gelungener Science-Ficion Roman, der mit einem brillanten Setting punktet, aber fast zu viel Handlung für ein Buch bietet. Für Leser des Genres bedenkenlos zu empfehlen – ab einem Lesealter von 16 Jahren.

[Buchgedanken] Christian Handel: „Schattengold – Ach, wie gut, dass niemand weiß …“

Vor kurzem habe ich „Schattengold – Ach, wie gut, dass niemand weiß …“ von Christian Handel gelesen. Das Buch ist 2022 in der Piper Verlag GmbH erschienen und als phantastische Märchenadaption einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Drei Dinge muss Farah ihren Eltern versprechen: Iss nie etwas, das dir Feen anbieten. Verrate ihnen nicht deinen Namen. Und am wichtigsten: Lass dich unter keinen Umständen auf einen Handel mit dem Dunklen Volk ein. In diesem Sommer wird Farah jedes einzelne dieser Versprechen brechen.

„Schattengold – Ach, wie gut, dass niemand weiß …“ ist eine phantastische Märchenadaption, eine Neuerzählung des bekannten Märchens „Rumpelstilzchen“. Dabei ist die Adaption durchaus düster gestaltet – und sicherlich nichts für kleine Kinder, sondern vielmehr für ältere Jugendliche. Gleichsam kann man das Buch auch der progressiven Phantastik zurechnen, spielen doch diverse und queere Charaktere eine zentrale Rolle in der Handlung.

Diese Handlung ist, obwohl aufgrund des Quellmaterials in Grundzügen bekannt, dennoch spannend und abwechslungsreich und durchaus in Teilen überraschend – allerdings wird sie auch gelegentlich durch die doch etwas zu aussagekräftigen Kapitelüberschriften gespoilert. Mögliche Abweichungen zum Quellmaterial halten sich im vertretbaren Rahmen.

Das Setting ist naturgemäß brillant. So entführt der Autor den Leser nach Firnland und in den Firnwald, in eine märchenhafte Welt voller Magie, Fabelwesen und bösen Schwiegermüttern. Dabei ist die Welt insgesamt düster aber atmosphärisch, geprägt von Standesdünkel, Steuererhöhungen und Furcht. Christian Handels Schreibstil ist hierbei leicht und flüssig zu lesen, lässt das Kopfkino sofort anspringen und die Welt so vor dem inneren Auge entstehen.

Die einzelnen Charaktere sind, im Wesentlichen, gelungen angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei glänzen vor allem wichtige Nebencharaktere wie Giulietta, Adil und – ein Fanliebling – der Waschbär, während Farah leider etwas blass bleibt, nicht nachvollziehbar und unlogisch handelt, und auch die Beziehung zu Magnus nicht in Gänze überzeugt.

Die Buchgestaltung ist solide. Dem Lektorat und Korrektorat sind zwar, gerade zu Beginn, doch einige Kleinigkeiten durchgerutscht, die den Lesefluss allerdings nicht erheblich hemmen. Der Buchsatz hingegen ist wunderschön, genau wie der auf Cover, Buchrücken und Coverrückseite leicht geprägte Buchumschlag, der ein tolles Gesamtbild ergibt, das sich auf dem farbigen Buchschnitt fortsetzt. Zudem ist das Buch mit leicht farbigen Coverinnenseiten und mit Illustrationen vor den einzelnen Buchabschnitten ausgestattet die jedoch dem Cover in Gänze entsprechen oder dies minimal variieren – hier hätte durchaus etwas mehr Variabilität für noch mehr visuelle Power gesorgt.

Mein Fazit? „Schattengold – Ach, wie gut, dass niemand weiß …“ ist eine tolle Märchenadaption, die vor allem durch das atmosphärisch-düstere Setting und tolle Nebencharaktere brilliert, aber auch kleinere Schwächen bei der Protagonistin und spoilernde Kapitelüberschriften vorzuweisen hat. Für Liebhaber des Genres dennoch bedenkenlos zu empfehlen, ab einem Lesealter von etwa 15 Jahren.

[Buchgedanken] Judith & Christian Vogt: „Schildmaid. Das Lied der Skaldin“

Eine Rezension frisch aus Leipzig von der Nichtbuchmesse! #weiterlesen

Vor kurzem habe ich „Schildmaid. Das Lied der Skaldin“ von Judith & Christian Vogt gelesen. Das Buch ist 2022 in der Piper Verlag GmbH erschienen und dem Genre Historical Fantasy zuzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag und die Autoren für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de

Seit sieben Jahren baut die Einzelgängerin Eyvor ein Drachenboot in einem Fjord. Als sich immer mehr Außenseiterinnen um sie scharen, wird sie unerwartet zur Kapitänin eines Schiffes, das eigentlich niemals in See stechen sollte. Die Letzte, die sich ihr anschließt, ist Herdis, das Krähenkind: Verfolgt von Berserkern zwingt sie die Gruppe zum Aufbruch. Es beginnt ein tödliches Wettrennen vom skandinavischen Festland bis ins Land der Eisriesen hinein, an dessen Ende nichts Geringeres droht als Ragnarök, das Weltenende selbst.

„Schildmaid. Das Lied der Skaldin“ ist historische Phantastik, so spielt die Geschichte zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt im Zeitalter der Wikinger. Zugleich gehört das Buch aber auch der selbsternannten, immer dominanter werdenden, progressiven Phantastik an, dreht es sich doch um Themen wie Emanzipation, sowie sexuelle und geschlechtliche Identitäten, die von der – zumindest überlieferten – Norm abweichen, ähnlich (sowohl im Setting als auch in der Botschaft) wie Nora Bendzkos „Die Götter müssen sterben“.

Die Handlung ist im Großen und Ganzen spannend und abwechslungsreich, mit zwischenzeitlich kleineren Längen und Ungereimtheiten und einem Ende, das – sagentypisch – auslegungsbedürftig ist und – zumindest mich – nicht vollends überzeugt.

Die einzelnen Charaktere sind im Wesentlichen dreidimensional angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Dabei werden auch dem Antagonisten gute Eigenschaften zuerkannt, sodass die Charaktere runder und kompletter wirken. Insbesondere überzeugen hier Tinna, Herdis und Birger.

Das Setting ist gelungen und führt den Leser durch einen Großteil der nordischen Welt, vom heutigen Dänemark über Norwegen, England und die Faröer bis hinzu entlegensten Inseln. Der Schreibstil der Autoren liest sich dabei wie aus einem Guss, durch die Vielzahl von Namen und die teils authentische Schreibweise kommt es jedoch zu Abstrichen in der Lesbarkeit, die gerade noch okay sind und durch die teils kurzen Kapitel aufgefangen werden.

Die Buchgestaltung überzeugt auf ganzer Linie. Lektorat und Korrektorat haben sauber gearbeitet, der Buchsatz ist gelungen und verdient ein Lob dafür, größere Sinnabschnitte immer auf ungeraden Buchseiten starten zu lassen. Der Buchumschlag ist hochwertig auf Cover, Buchrücken und Coverrückseite geprägt und mit Klappen und farbigen Coverinnenseiten versehen – sehr edel. Auch das Covermotiv überzeugt, lediglich die Darstellung des Buchtitels auf dem Cover kann für Verwirrung sorgen.

Mein Fazit: „Schildmaid. Das Lied der Skaldin“ ist historische/progressive Phantastik, die durch ein tolles Setting und komplexe Charaktere brilliert, aber auch einige Längen hat. Für Liebhaber des Genres bedenkenlos zu empfehlen – ab einem Lesealter von 16 Jahren.