[Buchgedanken] Stefan Kuhlmann: „Herr Winter taut auf“

Vor kurzem habe ich auch „Herr Winter taut auf“ von Stefan Kuhlmann gelesen. Das Buch ist 2023 im Rowohlt Taschenbuch Verlag, in der Rowohlt Verlag GmbH erschienen und als Tragikomödie einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Robert Winter hat keine Lust auf Geschwätz und keine Zeit für Unsinn. Ihm ist egal, was andere Menschen über ihn denken. Sie sollen ihn einfach nur in Ruhe lassen. Und so versteht er auch überhaupt nicht, was seine Frau Sophia an ihrem Beruf als AVON-Beraterin so liebt. Für ihn sind Beauty-Produkte so ziemlich das Letzte, womit er seine Zeit verbringen möchte. Erst als ein Unfall Sophia aus seinem Leben reißt, ändert sich alles schlagartig. Um nicht in Trauer zu ertrinken, beschließt Robert, in ihre Fußstapfen zu treten und für Sophia den Titel «AVON-Beraterin des Jahres» zu gewinnen. Nur ist das schwerer als gedacht. Deutlich schwerer …  

„Herr Winter taut auf“ ist der Debütroman des Film- und Fernsehautors Stefan Kuhlmann. Dabei ist der Roman relativ schwer zu kategorisieren. So könnte man das Buch durchaus als Schicksalsroman ansehen, auch ein Entwicklungsroman wäre denkbar. Im Blurb und den auf diversen Portalen zitierten Kritikerstimmen wird das Buch teils als Komödie, teils als Tragikomödie beschrieben – letzteres halte ich aufgrund der Mischung aus Schicksalsschlag und Humor im Endeffekt für stimmig und habe es daher übernommen.

Die Handlung ist abwechslungsreich und kurzweilig, wenn auch durchaus vorhersehbar und im Mittelteil etwas überfrachtet. Dennoch vereint Stefan Kuhlmann gut den Humor mit den durchaus tragischen Elementen, sorgt für witzige, teils abstruse Szenen, die sogar mit Ironie und Sarkasmus angereichert sind. Allerdings ist das Ende relativ offen, was mich als Leser teils unbefriedigt zurücklässt und nach einer Fortsetzung schreit.

Das Setting ist überzeugend, aber auch austauschbar. So entführt der Autor den Leser in eine nicht näher bezeichnete Stadt mit Tankshops, Krankenhaus, Friedhof, Gericht und einer zu hohen Dichte an AVON-Beratern. Dabei gelingt es Stefan Kuhlmann, den Leser in den Alltag, in die absolute Normalität hineinzuziehen, ohne das Buch langweilig werden zu lassen – lediglich die Ausführungen der Kosmetikanwendungen sind hier teils zu umfangreich geworden.

Die einzelnen Figuren sind im Wesentlichen vielschichtig, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive, wenn auch aufgrund der Vielzahl an Charakteren nicht alle im Detail ausgearbeitet werden können. So bleiben Wilma als Antagonistin und auch Dolores eher blass, während vor allem Basti und Lilli als wichtige Nebencharaktere punkten können. Stefan Kuhlmanns Schreibstil ist dabei leicht und flüssig zu lesen, pointiert, humorvoll und lässt das Kopfkino sofort anlaufen.

Die Buchgestaltung ist solide. Lektorat, Korrektorat und Buchsatz haben sauber gearbeitet, der Buchdeckel ist auf dem Cover hochwertig geprägt und mit Klappen und farbigen Coverinnenseiten versehen. Der Buchdeckel ist zudem generell sehr eintönig, das Covermotiv wird auch auf der Coverrückseite, einer farbigen Coverinnenseite und vor der Geschichte wieder aufgegriffen – etwas mehr Abwechslung hätte hier gut getan, vor allem, da das Motiv zwar humorvoll anmutet, die Handlung aber nicht wirklich abbildet.

Mein Fazit? „Herr Winter taut auf“ ist ein gelungenes und kurzweiliges Debüt, das vor allem mit seinem Humor und einem pointierten Schreibstil überzeugt, teils aber auch etwas überfrachtet ist. Für Leser des Genres dennoch bedenkenlos zu empfehlen.

[Buchgedanken] Thorsten Pilz: „Weite Sicht“

Vor kurzem habe ich „Weite Sicht“ von Thorsten Pilz gelesen. Das Buch ist 2023 bei Lübbe in der Bastei Lübbe AG erschienen und als Familiensaga einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars über die Bloggerjury.

Vier Frauen, vier Leben. Charlotte, die nach dem Tod ihres Mannes in Frage stellt, woran sie so lange glaubte. Gesine, die Hilfe braucht und nicht weiß, wie sie darum bitten soll. Sabine, die einsam ist und sich nicht damit abfindet. Und die Dänin Bente, der Freigeist, die Unruhestifterin, die fürchtet, nicht mehr genug Zeit zu haben für das, was sie noch vorhat. Nach vielen Jahren taucht Bente plötzlich wieder in Hamburg auf und wirbelt Charlottes Leben durcheinander. Mit ihrem Humor, ihrer Begeisterung für die Schriftstellerin Karen Blixen und ihrer Abenteuerlust. Vier Frauen, vier Leben. Und doch ist das, was ihnen die Sicht auf Neues verstellt, nur mit vereinten Kräften zur Seite zu schieben.

„Weite Sicht“ ist der Debütroman von Thorsten Pilz – und ich habe mich bereits mit der Genrezuordnung schwer getan. So liegt keine klassische Familiensaga vor, aber definitiv ein Roman über Familie – echte und selbst gewählte. Gleichsam sind aber auch Aspekte eines Entwicklungs- und Schicksalsroman vorhanden – und auch durchaus Argumente für die Klassifizierung als Gegenwartsliteratur. Aufgrund der jedoch wirklich starken Zentrierung um das Thema „Familie“ habe ich es schlussendlich bei der Eingruppierung als Familiensaga gelassen.

Die Handlung ist eher sekundär, passiert doch – etwas zugespitzt gesagt – fast gar nichts, wird die Geschichte doch vielmehr durch die Beziehungen untereinander und durch jeweils intrinsische Motive der Charaktere vorangetrieben als durch externe Handlungselemente. Dies ist in der Schlichtheit und Klarheit auch vollkommen okay – ich hätte mir lediglich gewünscht, dass die rar eingestreuten Handlungselemente etwas intensiver behandelt worden wären. Toll jedoch, dass die Handlung zeigt, dass auch im Alter von über 70 neue Liebe, neue Lebensabschnitte und drastische Veränderungen möglich sind.

Das Setting ist gelungen. So entführt der Autor den Leser nach Hamburg in die High Society zwischen Reederfamilie und Kulturstiftung, und in einen Vorort von Kopenhagen am Oresund – malerischer Sandstrand inklusive. Dabei zeigt Thorsten Pilz vor allem die stillen Seiten der Orte, die Alster am frühen Morgen, das Geburtshaus von Karen Blixen – oder auch den Berliner Teufelsberg. Eine bewusste Ruhe und Entschleunigung, die sicher auch dem Alter der Protagonistinnen geschuldet ist.

Die einzelnen Charaktere sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei überzeugt vor allem die dänische Wahlverwandtschaft mit Bente, Mogens und Troels, während Sabine nicht zwingend nachvollziehbar handelt. Der Schreibstil von Thorsten Pilz ist dabei leicht und flüssig lesbar, lässt das Kopfkino sofort anlaufen.

Die Buchgestaltung ist solide. Lektorat und Korrektorat haben sauber gearbeitet, der Buchsatz ist ordentlich, auch wenn die Überschrift der Kapitel mit fortlaufender Handlungsdauer unnötig erscheint. Der Buchumschlag ist mit Klappen ausgestaltet, das Titelbild zieht sich gut über den kompletten Umschlag und sorgt für einen tollen Gesamteindruck, auch wenn der Bezug zur Handlung etwas fehlt.

Mein Fazit? „Weite Sicht“ ist ein im Großen und Ganzen, vor allem sprachlich, überzeugendes Debüt mit tollem Setting und interessanten Charakteren und nur kleineren Schwächen in der Handlung. Bedenkenlos zu empfehlen – ab dem vom Verlag empfohlenen Lesealter von 16 Jahren – vielleicht auch ein, zwei Jahre früher.

[Buchgedanken] Gabriel Herlich: „Freischwimmer“

Und auch dieses Buch habe ich vor kurzem gelesen, nachdem ich den Autor auch auf der Leipziger Buchmesse getroffen habe. „Freischwimmer“ von Gabriel Herlich ist 2023 im Pendragon Verlag erschienen und als Gegenwartsliteratur einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Es gibt Zeiten im Leben, auf die man zurückblickt und begreift, dass sie alles verändert haben – für Donnie Frey ist diese Zeit sein 21. Sommer. Eine einzige schicksalhafte Begegnung reicht aus, um Donnie völlig aus der Bahn zu werfen. Plötzlich sieht er sich mit Fragen konfrontiert, denen er bislang erfolgreich ausgewichen ist. Was bedeutet es, eigene Entscheidungen zu treffen und mit den Konsequenzen zu leben? Wie weit würde er gehen, um für seine Überzeugungen einzustehen? Antworten auf diese Fragen findet er dort, wo er sie am wenigsten erwartet hätte: in Zimmer 311 eines Altenheimes, auf dem Fahrersitz eines Buchanka und in einem malerischen Hotel in Südfrankreich.

„Freischwimmer“ wird im Blurb von Takis Würger als Roadmovie, als Liebesgeschichte und Entwicklungsroman beschrieben – und ist unzweifelhaft auch all das. Gleichsam ist es auch ein Coming-of-Age Roman, fast eine Familiensaga, aber vor allem auch ein Roman der Gegenwartsliteratur. Letzteres habe ich auch als Einordnung, als Symbolbild für die Gesamtheit, die Komplexität übernommen – eine Kategorisierung, die durchaus auch auf wichtigen Verkaufsportalen zu finden ist.

Die Handlung ist abwechslungsreich und kurzweilig – auch wenn die einzelnen Zufälle, die die Handlung vorantreiben, in der Gesamtheit doch etwas konstruiert erscheinen. Das Ende hingegen verdient sein Lob dafür, nicht klischeehaft ein Happy-End zu installieren, sondern eine Auflösung, die zur Story passt und sich echt und organisch anfühlt. Dabei mischt Gabriel Herlich schwere Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Beutekunst und physische und sexuelle Gewalt mit der zarten Liebesgeschichte – und einer Mission der Wiedergutmachung.

Das Setting ist gelungen. So entführt der Autor den Leser nach Hamburg, in eine Welt voller Gegensätze zwischen High-Society Villa und schäbiger Gartenlaube, die in der Figur von Donatus kumulieren, der zu Beginn des Buches in beiden Welten – und doch irgendwie in keiner – so richtig zuhause ist. Zudem nimmt Gabriel Herlich den Leser auch mit auf eine Reise, nicht nur nach Frankreich sondern auch in die Vergangenheit zweier Familien voller Geheimnisse und Erinnerungen.

Die einzelnen Figuren sind vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei brilliert vor allem Meggie, und auch Laura und Vincent können als wichtige Nebencharaktere überzeugen. Donatus hingegen bleibt etwas blass, handelt nicht immer nachvollziehbar und lässt teils eine Lernkurve vermissen. Gabriel Herlichs Schreibstil ist hingegen leicht und flüssig lesbar und lässt das Kopfkino sofort anspringen.

Die Buchgestaltung ist solide. Lektorat, Korrektorat und Buchsatz haben sauber gearbeitet, wobei letzterer sich ein Zusatzlob dafür verdient, jedes Kapitel auf einer ungeraden Seite zu starten. Der Buchumschlag ist relativ simpel und eintönig, das Covermotiv, das ebenfalls nicht in Gänze überzeugt, abrupt zum Buchrücken unterbrochen. Auch das unter dem Umschlag befindliche Buch ist sehr einfach gestaltet – lediglich die Haptik vermag hier wirklich zu überzeugen.

Mein Fazit? „Freischwimmer“ ist ein Roman der Gegenwartsliteratur, der mit einer abwechslungsreichen und gut ausbalancierten Handlung punktet, die allerdings in Teilen auch etwas konstruiert erscheint. Für Leser des Genres bedenkenlos zu empfehlen – ab einem Lesealter von etwa 14 oder 15 Jahren.

[Buchgedanken] Hannah Lechner: „Sehnsucht am Tegernsee“

Vor kurzem habe ich „Sehnsucht am Tegernsee“ von Hannah Lechner gelesen. Das Buch ist 2023 in der Emons Verlag GmbH erschienen und als Liebesroman einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Eine junge Frau zwischen Liebe und Loyalität. Eine berührende Liebesgeschichte aus dem Herzen Bayerns. Nach einer gescheiterten Beziehung verliebt sich Kira Wagner in Felix, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt, und ihr Leben gerät in Turbulenzen. Zur selben Zeit erbt sie von ihrem Onkel ein Hotel am Tegernsee. Der sympathische Noah bietet ihr viel Geld für das Anwesen – Geld, mit dem Kira Felix eine wichtige Operation ermöglichen könnte. Doch ihr Onkel hat ihr zu Lebzeiten das Versprechen abgenommen, das Hotel niemals zu verkaufen. Kira muss eine folgenschwere Entscheidung treffen.

„Sehnsucht am Tegernsee“ lässt sich bereits nicht so ganz einfach einem Genre zuordnen. So ist das Buch durchaus ein Liebesroman – auch wenn das Ende dafür eher unüblich ist und die Love Interests nicht ganz klar sind. Darüber hinaus ist das Buch aber auch Familiensaga, wird doch die Geschichte der Familie Wagner/Sollinger über mehrere Generationen hinweg beleuchtet. Und nicht zuletzt ist das Buch auch Entwicklungsroman, sowohl hinsichtlich Kira als auch bezüglich Felix und – teils – sogar Schicksalsroman.

Die Handlung ist abwechslungsreich, kurzweilig und mit unerwarteten Wendungen versehen. Dabei mischt Hannah Lechner die romantischen Storylines gut mit den schweren Themen, die den Roman durchziehen und durchaus Schwerpunkte setzen, aber nie die schönen Szenen gänzlich überlagern. Allerdings ist das Finale dann doch sehr unbefriedigend, werden doch viele zentrale Fragen nicht beantwortet – und viele Handlungsstränge schlichtweg offen gelassen und nicht aufgelöst.

Das Setting ist wunderschön. So entführt die Autorin den Leser nach Bayern, in die Vielfalt des Landes zwischen Stadtleben (Bayreuth) und bezaubernder ländlicher Idylle (Rottach-Egern am Tegernsee). Dabei sind es vor allem die Szenen in den Bergen, die Wanderungen zu Wallfahrtskapellen und Hütten, die den Leser hier zum Träumen bringen, die für wunderschöne Bilder vor dem inneren Auge sorgen.

Die einzelnen Charaktere sind, zumindest größtenteils, vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei überzeugen vor allem Noah, Rudi (:D) und Georg, während Leonie etwas eindimensional verbleibt. Kira und Felix sind zusammen wirklich toll, haben aber auch unverständliche, nicht nachvollziehbare Momente, die etwas irritieren. Hannah Lechners Schreibstil ist im Übrigen leicht und flüssig lesbar, und lässt das Kopfkino sofort anlaufen.

Die Buchgestaltung ist solide. Lektorat, Korrektorat und Buchsatz haben sauber gearbeitet, der Buchdeckel ist auf dem Cover, der Coverrückseite und dem Buchrücken hochwertig geprägt. Das Covermotiv ist wunderschön, wird leider aber zum Buchrücken hin unterbrochen. Insgesamt macht das Buch einen wertigen Eindruck, Klappen und/oder farbige Coverinnenseiten hätten hier die Gestaltung jedoch noch abrunden können.

Mein Fazit? „Sehnsucht am Tegernsee“ ist ein in vielen Punkten überzeugender Roman, der vor allem durch sein Setting und die abwechslungsreiche und ausbalancierte Handlung brilliert, leider jedoch ein zu offenes Ende hat. Dennoch bedenkenlos zu empfehlen.

[Buchgedanken] Berni Mayer: „Das vorläufige Ende der Zeit“

Vor kurzem habe ich „Das vorläufige Ende der Zeit“ von Berni Mayer gelesen. Das Buch ist 2023 im DuMont Buchverlag erschienen und als Gegenwartsliteratur einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Buchverlosung auf Lovelybooks.de.

Der verlassene jüdische Friedhof Słubice gehört zu Frankfurt an der Oder, liegt aber auf polnischem Staatsgebiet. An diesem besonderen Ort begegnet die Archäologin Mi-Ra zum einen dem Friedhofswärter Artur, zum anderen Horatio Beeltz, einem seltsamen, aus der Zeit gefallenen Verleger, der nicht nur alles über den Friedhof weiß – sondern sich auch sehr für Mi-Ra und Artur und ihre Geschichte interessiert. Mi-Ra hat ihre traumatische Kindheit und eine brutale Beziehung bloß halb überwunden; Artur lebt nach dem Tod seiner kleinen Tochter wie betäubt in einer nahezu wortlosen Ehe. Dann eröffnet ihnen Horatio Beeltz Ungeheuerliches: Er habe auf dem Friedhof in Słubice einen Zeitriss entdeckt, über den es möglich sei, in die eigene Vergangenheit zu reisen. Falls sich Mi-Ra und Artur dazu entschlössen, könnten sie an bestimmten Stellen in ihrem früheren Leben eine andere, vielleicht bessere Entscheidung treffen und den Dingen eine neue Wendung geben.

„Das vorläufige Ende der Zeit“ lässt mich auch etwas nach Beenden der Lektüre weiterhin ratlos zurück. Und das beginnt bereits beim Genre. Ist das Buch ein Roman der Gegenwartsliteratur? Wohl schon. Aber geht es nicht auch um Zeitreisen? Ja, sodass man wohl auch zu Science-Fiction tendieren könne, wenn auch das Konzept der Zeitreisen im Buch hier eher untechnisch als ideologisch ist. Und schließlich ist auch die Selbsterkenntnis der Protagonisten zentral für das Buch, sodass auch Aspekte eines Entwicklungsromans vorhanden sind – ein bunter Genremix also, den ich der Einfachheit halber der Gegenwartsliteratur zugeordnet habe.

Die Handlung ist im Wesentlichen aufgeteilt auf vier Handlungsstränge: den gegenwärtigen, sowie die vergangenen von Mi-Ra, Artur und Horatio – die eher nebensächlichen und vernachlässigbaren Informationen zu Hubert Freund mal weggelassen, dessen einzig relevanter Anteil am Buch die Wortspiele mit seinem Namen sind. Dabei taucht die Handlung tief in die menschliche Psyche ein, spielt mit den Erinnerungen und dem Zeitreise-Paradoxon, ist im Wesentlichen eine Ausgestaltung der Multiversumstheorie. Wer sich hier klare Antworten wünscht, ist eher fehl am Platz, ist das Buch doch auf Dauer interpretationsbedürftig und auslegbar – wie auch das Leben selbst, auch wenn es einen als Leser dennoch bedingt unbefriedigt zurücklässt, insbesondere das Ende.

Das Setting ist hingegen toll gewählt. Der jüdische Friedhof in Slubice verbindet wie kaum ein anderer Ort Vergangenheit und Zukunft, verschiedene Länder, Menschen und Religionen. Darüber hinaus entführt uns Berni Mayer durch die Zeitreisen/Erinnerungen ins Polen der Jahrtausendwende, nach Essen, in den Alltag koreanischer Einwanderer, und nach Whitley Bay im frühen 20. Jahrhundert und verknüpft dabei die Handlungsorte aufgrund der (psychedelischen?) Reisen stark mit Gerüchen – ein interessanter Ansatz.

Die einzelnen Figuren sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, beschränken sich aber auch auf einen kleinen Kreis wirklicher Protagonisten, sind ihre Familienmitglieder doch mehr oder weniger zu Statisten degradiert. Mi-Ra überzeugt hier auf ganzer Linie mit ihrem scharfen Blick – aber vor allem auch ihrer Kompromisslosigkeit und Direktheit, während Artur übers ganze Buch hinweg etwas blass verbleibt und Horatio sich als skurrile, nicht einschätzbare Mischung zwischen P. T. Barnum und Werther herausstellt. Berni Mayers Schreibstil ist dabei gut und flüssig lesbar und lässt das Kopfkino sofort anspringen.

Die Buchgestaltung ist durchwachsen. Lektorat und Korrektorat haben ordentlich gearbeitet, der Buchsatz verdient sich bereits ein Lob dafür, jedes Kapitel auf einer ungeraden Seite zu starten und ist sonst auch konservativ-solide. Der Buchumschlag ist relativ monoton, das darunterliegende Buch sehr schlicht, der Blurb auf der Coverrückseite kaum lesbar (ocker auf mintgrün?). Auch das Cover vermag nicht ganz zu überzeugen – eigentlich gibt es auch kein Covermotiv, sondern nur den typografisch ungewöhnlich gesetzten Titel.

Mein Fazit? „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist ein atmosphärischer und eindringlicher Roman, der vor allem dank seiner Prämisse und dem tollen Setting brilliert, aber auch im Unklaren verbleibt und sich so zum Ende hin etwas verliert. Für Leser von Gegenwartsliteratur dennoch bedenkenlos zu empfehlen – allerdings nicht unbedingt für den klassischen Sci-Fi-Leser.

[Buchgedanken] Anne Prettin: „Der Ruf des Eisvogels“

Vor kurzem habe ich „Der Ruf des Eisvogels“ von Anne Prettin gelesen. Das Buch ist 2023 bei Lübbe in der Bastei Lübbe AG erschienen und als Familiensaga einzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars über die Bloggerjury.

21 Gramm, so viel wiegt eine Seele, weiß Olga. Ungefähr so viel wie der Eisvogel, in dem die Seele ihrer Mutter fortlebt, ewig und drei Tage. Das zumindest behauptet ihr Großvater, obwohl er Arzt ist und doch eigentlich an Wissenschaft glaubt. Er ist es auch, der Olga die Wunder der Natur erklärt und in ihr die Liebe zur Medizin weckt. Denn der kühle, distanzierte Vater hat kein Verständnis dafür, dass Olga die Welt mit eigenen Augen sieht. Dann bricht der zweite Weltkrieg in die Idylle der Uckermark ein. Die Achtzehnjährige muss fliehen, und nichts ist mehr, wie es war. Erst fünfzig Jahre später kehrt sie mit Tochter und Enkelin zurück.

„Der Ruf des Eisvogels“ ist nach „Die vier Gezeiten“ mein zweites Buch von Anne Prettin. Dabei lässt sich das Buch sowohl als Familiensaga einordnen – allerdings ungewohntermaßen als Standalone – oder natürlich auch als historischer Roman oder als Entwicklungsroman, um nur einige der relativ vielen Möglichkeiten zu nennen. In jedem Fall ist „Der Ruf des Eisvogels“ jedoch ein Buch über Mut und Freundschaft, über Liebe, schwere Entscheidungen und Verlust – ein Buch über das Leben also.

Die Handlung ist kurzweilig und abwechslungsreich und mit unerwarteten Wendungen versehen. Durch die verschiedenen Zeitebenen, Zeitsprünge und das in der vergangenen Zeitebene teils sogar unchronologische Erzählen ist es jedoch nicht immer ganz einfach, hier den Überblick über alles zu behalten – und es dauert einige Zeit, bis man so richtig im Lesefluss ist. Zudem ist die Handlung gespickt mit schweren Themen, die aber alle durchweg gut aufgearbeitet worden sind, aber im Zweifel für die ungewohnt späte Leseempfehlung des Verlags sorgen, die ich uneingeschränkt teile.

Das Setting ist gelungen und ein Panorama der näheren deutschen Geschichte. So entführt Anne Prettin den Leser nicht nur ins Deutschland nach der Machtergreifung der NSDAP und während des Zweiten Weltkrieges, sondern auch ins Nachkriegsdeutschland, ins geteilte Deutschland und in die frisch wiedervereinigte Bundesrepublik – und schildert anschaulich die Probleme und Unterschiede der einzelnen Epochen für verschiedene Generationen und Bevölkerungsgruppen.

Die einzelnen Figuren sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive, auch wenn aufgrund der Vielzahl der handelnden Personen über mehrere Zeitstränge hinweg nicht alle gleichermaßen dreidimensional gestaltet wurden. Hier überzeugen insbesondere Sara, Karl und Annemie als wichtige Nebencharaktere. Anne Prettins Schreibstil ist zudem gefühlvoll, ist leicht und flüssig lesbar und lässt das Kopfkino sofort anspringen.

Zur Buchgestaltung kann vorliegend wenig gesagt werden, da das vorliegende Vorab-Leseexemplar nicht der finalen Ausgestaltung des Buches entspricht. So sind bisweilen noch – allerdings ohnehin in tolerierbarem Umfang – Fehler vorhanden, die ein (ggf. weiteres) Endkorrektorat aber ausmünzen würde. Zudem ist das Covermotiv mit der finalen Ausgabe identisch und farblich ein Traum.

Mein Fazit? „Der Ruf des Eisvogels“ von Anne Prettin ist ein gefühlvoller Roman mit abwechslungsreicher Handlung und tollem Setting, allerdings braucht man etwas, sich zurechtzufinden. Für Leser des Genres bedenkenlos zu empfehlen – ab dem (wie oben schon angeteasert) vom Verlag angegebenen Lesealter von 16 Jahren.

[Buchgedanken] Caroline Schmitt: „Liebewesen“

Vor kurzem habe ich das Debüt „Liebewesen“ von Caroline Schmitt gelesen. Das Buch ist 2023 im Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG veröffentlicht worden und dem Genre Liebesroman zuzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars über die Bloggerjury.

Lios Körper ist ihr Albtraum, daran ändert auch ihr Freund Max nichts. Als sie ungeplant schwanger wird, starrt sie nicht nur fassungslos auf den positiven Test, weil jemand wie sie doch gar nicht schwanger werden kann, sondern auch auf das Ende einer mühsam erarbeiteten Normalität. Sie ist unfähig, Max von der Schwangerschaft zu erzählen, und genauso unfähig, diese zu beenden. Während das Kind in Lios Bauch wächst, prasseln Erinnerungen auf sie ein: an ihre kalte Mutter, ihren hilflosen Vater und an all das andere, das sie für immer vergessen wollte. Zum ersten Mal stellt sie sich ihrer Vergangenheit – und riskiert damit, dass alles zusammenbricht.

„Liebewesen“ ist der Debütroman der Journalistin Caroline Schmitt – und was für einer. Dabei lässt er sich bereits nur schwerlich einem Genre zuordnen. Als Modernisierung fürs Liebesroman-Genre beworben, lässt er sich zwar unzweifelhaft dort einordnen, changiert aber auch zwischen Entwicklungs- und Schicksalsroman, ist Gegenwartsliteratur und ließe sich sogar im Bereich LGBTQIA+ einordnen – ein bunter Genremix also.

Die Handlung ist zentriert auf die Liebesgeschichte – bzw. die Beziehung – zwischen Max und Lio und wird aus der Ich-Perspektive von Lio erzählt, was es dem Leser ermöglicht, mit ihr im Speziellen mitzufiebern, zu weinen, zu lachen und zu leiden. Dabei verliert die Geschichte – trotz der schweren Themen – nie ihren Humor, der den Roman prägt und viel zum – sprachlichen – Erfolg des Debüts beiträgt. So unglaublich stark sie anfängt, baut sie allerdings auch leicht in der zweiten Hälfte ab – und gerade das Ende vermag hier nicht zu überzeugen.

Das Setting ist so austauschbar wie das Leben, belanglos – und daher gerade gut und realistisch. Eine chaotische WG, eine Wohnung mit Goethe-Gesamtausgabe – und ein Palettenbett in der gemeinsamen Wohnung. Caroline Schmitt führt den Leser in den banalen Alltag zwischen Bootstouren nach Frankreich und Jahrgangspartys im Garten der Mutter – schonungslos und ehrlich zeigt sie die Klischees von ihrer wahren Seite: weder romantisch verklärt, noch glamourös leuchtend.

Dies schlägt sich auch in den Figuren durch, die perfekt unperfekt sind – vom depressiven Radiomoderator bis hin zur – nicht näher definierten – asexuellen Biologin, die schwanger wird. Die Autorin schafft hier Figuren, die nachvollziehbar sind, die auch problemlos im Nachbarhaus leben könnten. Dabei ist ihr Schreibstil gut und flüssig lesbar, pointiert und prägnant – lediglich am Ende verlieren sich Autorin und Geschichte etwas.

Die Buchgestaltung ist solide. Lektorat und Korrektorat haben sauber gearbeitet, der Buchsatz ist konservativ, aber fehlerfrei – auch wenn man auf die den späteren Kapiteln vorgestellten Erklärungen zu den einzelnen Schwangerschaftswochen hätte verzichten können. Der Buchumschlag ist einfach, die Coverrückseite überladen, das Buch unter dem Umschlag immerhin mit farbigen, allerdings eintönigen Coverinnenseiten versehen. Das Covermotiv ist experimentell und gewöhnungsbedürftig – schon ein Eyecatcher, allerdings ein fragwürdiger, fehlt mir doch jeder Sinn hinter dem Motiv.

Mein Fazit? „Liebewesen“ ist ein spannendes Debüt, das vor allem dank der pointierten Sprache, dem Humor und seiner schonungslosem Realismus punktet, aber auch kleinere Schwächen gerade am Ende hat. Für Leser von Gegenwartsliteratur bedenkenlos zu empfehlen – ab einem Lesealter von etwa 16 Jahren.

[Buchgedanken] Kacen Callender: „How do I tell them I love them?“

Vor kurzem habe ich „How do I tell them I love them“ von Kacen Callender gelesen. Das Buch ist 2022 im LYX Verlag in der Bastei Lübbe AG veröffentlicht worden, die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel „Lark and Kasim Start a Revolution“ bei Amulet Books, einem Imprint von Abrams, New York. Das Buch ist als Jugendbuch einzuordnen, für die Übersetzung zeichnet Anne-Sophie Ritscher verantwortlich. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars über die Bloggerjury.

Lark Winters größter Traum ist es, Autor*in zu werden. Aber dey erhält eine Agenturabsage nach der anderen. Zu jung, zu queer, zu emotional – niemand will die Relevanz der Geschichte für nichtbinäre Menschen wie Lark erkennen. Doch als plötzlich ein Tweet von Lark über unerwiderte Liebe viral geht, ist deren Traum zum Greifen nah. Endlich bekommt Lark die Aufmerksamkeit, die dey sich die ganze Zeit gewünscht hat. Einziges Problem: Lark hat den Tweet nie geschrieben! Er stammt eigentlich von Larks ehemals bestem Freund Kasim, der seit einem Jahr nicht mehr wirklich mit demm redet. Lark muss sich entscheiden: einen Traum leben, der auf einer Lüge basiert, oder herausfinden, was hinter Kasims Tweet steckt und was mit ihrer Freundschaft passiert ist …

Auch bei „How do I tell them I love them?“ fällt die Genrebestimmung nicht leicht. So liegt unzweifelhaft ein Jugendbuch/-Roman vor, es ließen sich aber – durchaus genretypisch – auch die Voraussetzungen eines Entwicklungsromans, eines Liebesromans oder eines LGBTQIA+-Romans bejahen. Kacen Callender steht in jedem Fall als Own Voice-Autorin zur Verfügung und besetzt spätestens seit ihrem letzten Romans mehrere der Themen prominent in den Medien.

Die Handlung ist geprägt von Gesprächen über Diskriminierung, Cybermobbing, LGBTQIA+-Thematiken und polyamouröse Beziehungen – hier werden wichtige Themen von der Autorin angerissen und glaubhaft diskutiert. Leider erschöpft sich die Handlung auch bereits darin und kommt so mehr oder weniger ohne Spannungskurve aus – die Integration der gesellschaftlich relevanten Themen in eine tragfähigere Handlung hätte diese durchaus noch präsenter werden lassen können.

Das Setting ist naturgemäß gelungen. Die Autorin entführt den Leser authentisch in die USA der Jetztzeit, in minorisierte Communities in dem Land, das nach Trump weiter von Polizeigewalt und tiefen Spaltungen geprägt ist. Dabei spielt die Corona-Pandemie in dem Roman ebenfalls eine tragende Rolle, auch wenn sie weder viel zur Handlung noch für die Atmosphäre des Settings beiträgt, mit Ausnahme der obligatorischen Maskenpflicht.

Die einzelnen Charaktere sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, bilden aber auch eine in sich geschlossene Bubble, die sie in Gänze von der, teils verhassten, weißen cis-Mehrheitsgesellschaft abgrenzt – hier hätte etwas Durchmischung, hätten etwas mehr durchlässige Grenzen nicht geschadet. So enttäuscht gerade Lark als Charakter und bleibt blass, während Jamal und Asha als wichtige Nebenfiguren hingegen glänzen können. Kacen Callenders Schreibstil ist dabei leicht und flüssig lesbar, teils aber zu belehrend.

Die Buchgestaltung ist gelungen. Lektorat, Korrektorat und Buchsatz haben sauber gearbeitet, der Einbau von Tweets ist wunderschön gelöst, die Handlung mit eingebauten Texten und Kommentaren durchbrochen und abgerundet. Der Buchumschlag ist auf dem Cover und dem Buchrücken hochwertig geprägt, das unter dem Umschlag befindliche Buch ebenfalls aufwendig gearbeitet und mit farbigen Coverinnenseiten versehen. Das Covermotiv passt gut zur Geschichte, lässt aber etwas Spannung, Akzente vermissen, die dafür sorgen, dass es direkt ins Auge springt und im Gedächtnis bleibt.

Mein Fazit? „How do I tell them I love them?“ ist ein Jugendbuch, das wichtige Themen anspricht und durch sein Setting brilliert, leider aber auch kleinere Schwächen in der Hauptfigur und bei der Handlung hat. Für Leser des Genres dennoch bedenkenlos zu empfehlen – ab dem vom Verlag empfohlenen Lesealter von 14 Jahren.

[Buchgedanken] Aiki Mira: „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“

Vor kurzem habe ich „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ von Aiki Mira gelesen. Das Buch ist 2023 im Polarise Verlag, einem Imprint der dpunkt.verlag GmbH veröffentlicht worden und dem Genre Science-Fiction zuzuordnen. Vielen Dank an dieser Stelle auch an den Verlag für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplars im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks.de.

Hamburg im Jahr 2112: Die Stadt wird immer wieder von Starkregen geflutet, im Binnendelta hat sich ein Slum aus schwimmenden Containern gebildet und über allem thront das gigantische Stadion. Zum „Turnier der Legenden“ reisen Fans aus der ganzen Welt an, um die berühmten Glam-Gamer spielen zu sehen. Auch Go [Stuntboi] Kazumi begeistert sich für das VR-Gaming, fährt jedoch noch lieber Stunts auf dem Retro-Skateboard. Ein Sturz scheint das Aus für Gos Karriere zu bedeuten, doch dann wird Go ein Job im Stadion angeboten – bei den Rahmani-Geschwistern, den berühmtesten Gamern Deutschlands! Von da an überschlagen sich die Ereignisse und Gos Welt wird komplett auf den Kopf gestellt: ein Bombenanschlag, illegale Flasharenen, Tech-Aktivisten, Cyberdrogen, künstliche Intelligenzen – und dann ist da auch noch dieses Mädchen …

„Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ lässt sich bereits schwer einem Genre zuordnen. Vom Verlag beworben als Near-Future-Science-Fiction, als Entwicklungsroman, als LGBTQIA+-Roman, habe ich es der Einfachheit halber bei der Einordnung als Science-Fiction belassen – denn für „Near-Future“ sind mir die 90 Jahre doch etwas viel. Gute Argumente hätten sich aber auch für die Einstufung als progressive Phantastik gefunden – oder sogar für die Kategorisierung als (Polit-) Thriller oder Dystopie.

Die Handlung ist spannend und abwechslungsreich, teils aber auch etwas verworren und sehr komplex, fügen sich doch genug Handlungsstränge und Schauplätze für – mindestens – zwei Bücher mal mehr, mal weniger gut zusammen. So bleiben gerade die politischen Themen etwas flach, die verschiedenen Aktivisten- und Terrorgruppen blass, während der Handlungsstrang um Go, ELLL und die Rahmanis gut aufgearbeitet wird. Gerade der Einstieg fällt jedoch unglaublich schwer – selbst für gameaffine Leser ist der Wechsel zwischen Realität und VR, zwischen Gesprächen, Chats und übermittelten Gedanken anfangs viel und nicht immer leicht fassbar.

Das Setting begeistert hingegen auf ganzer Linie. Aiki Mira entführt den Leser in ein Hamburg der Zukunft, in eine Welt, die von global agierenden Unternehmen geprägt und dominiert wird. Und auch wenn man anfangs etwas braucht, sich zurechtzufinden, ist die Welt doch nach und nach immer faszinierender, spannender und – ja – auch dystopischer. Lediglich die Ingame-Umgebung und die Szenen im Neurosubstrat lassen sich bildlich für die Leser nur schwer fassen.

Die einzelnen Charaktere sind im Wesentlichen vielschichtig angelegt, haben Stärken und Schwächen, eigene Ziele und Motive. Hierbei überzeugen vor allem Ren Kazumi, beide Rahmanis und ELLL, während Ben und Tayo sehr blass bleiben. Bei Go bin ich zwiegespalten. So sind die Zweifel, ihre Suche nach der geschlechtlichen Identität gut dargestellt, darüber hinaus handelt sie aber nicht zwingend nachvollziehbar. Aiki Miras Schreibstil ist im Wesentlichen gut und flüssig lesbar, sehr authentisch und technikaffin.

Die Buchgestaltung ist gelungen, Lektorat und Korrektorat haben sauber gearbeitet, der Buchsatz ist solide, aber relativ schlicht – hier hätte man den Gamecharakter oder die technologischen Features noch etwas besser darstellen können. Das Covermotiv zieht sich über den kompletten Buchumschlag, ist farblich ein Traum und verbirgt das ein oder andere typografische Easter Egg. Allerdings hätte hier durchaus noch mit Klappen oder farbigen Coverinnenseiten das Design etwas aufgepeppt werden können.

Mein Fazit? „Neongrau: Game Over im Neurosubstrat“ ist ein sehr ambitionierter, aber auch gelungener Science-Ficion Roman, der mit einem brillanten Setting punktet, aber fast zu viel Handlung für ein Buch bietet. Für Leser des Genres bedenkenlos zu empfehlen – ab einem Lesealter von 16 Jahren.

Von Debütanten und Preisträgern | Doppelte Lovelybooks-Buchpost

Vor kurzem erreichten mich mal wieder zwei Bücher als Rezensionsexemplare im Rahmen von Leserunden auf Lovelybooks.de – vielen Dank dafür! „Freischwimmer“ von Gabriel Herlich ist dabei ein im Pendragon Verlag erschienenes Debüt, ein Roadmovie als Entwicklungsroman, während „Soldaten im Licht“ von Kameron Hurley (Panini Verlags GmbH) neue epische Military Science-Fiction der Hugo Award Gewinnerin von 2014 ist. Krasser könnten die Unterschiede gar nicht mehr sein – und genauso groß ist auch die Vorfreude auf die beiden Bücher.

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